Je bedeutender ein Architekturprojekt ist, desto einzigartiger soll es sein. Insbesondere bei komplexen Freiformen aus Beton sind dann individuelle und leistungsfähige Sonderschalungen notwendig. Ihre passgenaue Herstellung und präzise Anordnung ermöglicht Architekten und Planern völlig neuartige und kreative Gestaltungsformen. In diesem Beitrag stellen wir Ihnen drei herausragende Projekte des Sonderschalungsbaus vor: die Kelchstützen im Hauptbahnhof Stuttgart 21, die Neuapostolische Kirche in Bad Cannstatt und das Aquatics Centre in London.
Ingenhoven architects; Neuer Durchgangsbahnhof Stuttgart
Bis zu 58 Schalungsteile: Die Kelchstützen im Stuttgarter Hauptbahnhof
Seit 2010 entsteht in der baden-württembergischen Landeshauptstadt eines der umstrittensten Großprojekte Deutschlands: der unterirdische Hauptbahnhof Stuttgart im Rahmen des Projektes „Stuttgart 21“. Architekt Christoph Ingenhoven hat sich für die Halle ein besonderes Tragwerk ausgedacht. 28 Betonstützen in Kelchform sollen das Dach tragen. Die einzelnen Stützen von je 1.000 Tonnen und etwa 13 Metern Höhe ähneln sich zwar, unterscheiden sich jedoch in ihrer exakten Form, Neigung und Länge. Hinzu kommt die Herausforderung, dass die Sichtbetonflächen auf den Stützen keine sichtbaren Quer- oder Längsfugen aufweisen sollen.
Die Lösung: Eine Betonschalung aus verleimtem Brettsperrholz, die höchst präzise mit einer Fräse bearbeitet wird. Für jede der Freiformen muss der ausgewählte Fachbetrieb eine individuelle Sonderschalung herstellen, die jeweils 1.000 Quadratmeter Fläche umfasst und sich aus bis zu 58 Einzelteilen zusammensetzt. Zudem ist eine spezielle Betonrezeptur notwendig, welche die Stabilität der Stützen gewährleistet und gleichzeitig gute Fließeigenschaften hat. Pro Kelchstütze rechnen die Architekten und Planer mit einer Bauzeit von fünf Monaten. Später sollen große Lichtaugen, die auf den Säulen thronen, Tageslicht in den unterirdischen Bahnhof leiten.
Ein ovaler Monolith der Geborgenheit: Die Neuapostolische Kirche in Bad Cannstatt
Das neue Gebäude der Neuapostolischen Kirche Bad Cannstatt besteht aus einem ovalen Haupthaus mit einer Höhe von acht Metern und einem flachen Anbau – beide aus Leichtbeton gefertigt. Für die Wahl dieser Freiform hatte die Mühleisen + Partner Planungsgesellschaft mbH gute Gründe. Die 60 Zentimeter dicken Wände bieten einen optimalen Schallschutz gegenüber der angrenzenden Bahnstrecke und gewährleisten eine ausgezeichnete Wärmedämmung. Darüber hinaus soll der sakrale Bau im Inneren Schutz und Geborgenheit vermitteln.
Die monolithische Form des Haupthauses sowie der flache Anbau wurden dank einer Sonderschalung für Leichtbeton möglich. Insbesondere die Fassade des Anbaus präsentiert sich in Sichtbetonqualität mit Naturstein-Optik. Es galt also, die Struktur eines LC12/13 Betons mit lunkerartiger Tuffsteinstruktur auf den verwendeten LC20/22 Beton zu übertragen. Hierfür entwickelten die Betonschalungsexperten geschosshohe Musterwände mit einer Dicke von 60 Zentimetern. Durch Stabilisatoren, Luftporenbildner und Variationen des Mörtelgehalts konnten sie den gewünschten Sichtbeton erreichen. Das Oval ist dagegen mit sandfarbenem Kalkputz verkleidet.
Eine Welle der Begeisterung: Das Aquatics Centre in London
Rick Ligthelm, (CC BY 2.0); Aquatic Centre London
Die Architektin Zaha Hadid ist bekannt für ihre amorphen Bauprojekte, ob bei Stadien oder Schwimmhallen. Sie zeichnete auch für das Aquatics Centre in London verantwortlich, in dem 2012 die Schwimmwettbewerbe der Olympischen Spiele ausgetragen wurden. Doch erst seit dem Abbau der temporären Zuschauertribünen präsentiert sich das Gebäude in seiner endgültigen Form. Das geschwungene Dach mit einer Länge von 160 Metern erinnert an eine riesige Welle. Die großflächigen Glasfassaden reflektieren das Blau des Himmels – wie das Wasser selbst.
Der Sonderschalungsbau spielte vor allem im Inneren der Schwimmhalle eine große Rolle. Die Sprungtürme aus Beton ragen wie Skulpturen aus dem riesigen Sockel, der ebenfalls aus Beton gefertigt ist. Einen Kontrast dazu bilden lediglich schlichte, weiße Fliesen am Beckenrand und die 35.000 exakt beschnittenen Holzlamellen an der Untersicht des Daches. Der stützenfreie Hauptraum wird nur von zwei schlanken Betonsäulen auf der einen Seite und einer Betonwand auf der anderen Seite begrenzt. Sie tragen das Dach, in dem 2.800 Tonnen Stahlfachwerkträger verbaut sind.
Die Zukunft: Sonderschalungen für Leicht- und Infraleichtbeton
Freiformen in der Architektur sind dank des Sonderschalungsbaus und spezieller Betonrezepturen möglich. Die Schalungen selbst werden je nach individuellen Anforderungen beispielsweise aus Holz, Kunststoff oder Metall gefertigt. Die ETH Zürich erprobt derzeit eine weitere Variante: Mithilfe von Stahlseilen und einem Polymertextil errichteten sie in Leichtbeton ein extrem dünnes, selbsttragendes Dach. Auch die TU Berlin forscht an einem neuen Infraleichtbeton.